Öffentliche Wahrnehmung von Inkontinenz
In diesem Ratgeber- Beitrag haben wir uns mit der Fragestellung beschäftigt, wie die Öffentlichkeit mit dem Thema Blasenschwäche und Harninkontinenz umgeht. Spannend ist hierbei, dass der Artikel aus Sicht einer betroffnen Person verfasst wurde.
Inkontinenz – die Krankheit, die es nicht gibt
Inkontinenz, insbesondere Harninkontinenz, hat sich zu einer wahren Volkskrankheit entwickelt. Je nachdem, welche Zahlen zugrunde gelegt werden, leiden 6 – 7 Millionen Menschen an Inkontinenz. Das kommt der Zahl der Diabetes Typ II erkrankten Patienten gleich oder übertrifft sie sogar.
Der Vergleich mit Diabetes ist gut, wirft er doch ein bezeichnendes Licht auf den Umgang der Öffentlichkeit mit Inkontinenz. Für die Allgemeinheit existiert die Krankheit nicht. Über das Thema wird nicht gesprochen oder geschrieben, geschweige denn Filme gedreht.
Andere Krankheiten wie Krebs oder Multiple Sklerose (MS) wurden in zahlreichen Filmen, Serien oder Bücher polemisiert und die Betroffenen als Helden dargestellt. Mir ist aber kein einziger Film bekannt, dessen Held inkontinent ist. Klar, es gibt Ratgeber, Bücher und Foren zu diesem Thema, aber nur für den, der sich die Mühe macht, danach gezielt zu suchen.
Das sind meistens die Betroffenen oder höchstens noch ihre nächsten Angehörigen. Der Masterthesis Tabuthema Inkontinenz zufolge (Autorin: Gabriele Kroboth, Universität Graz), herrscht selbst unter dem Pflegepersonal noch Aufklärungsbedarf zu diesem Sachverhalt.
Wie wirkt sich das auf die Betroffenen aus?
Harninkontinenz gilt immer noch als Schande und Schwäche. Stellen Sie sich nur mal in Gedanken vor, Sie müssten mit einer Hose, die vorn nass ist, durch die Stadt laufen.
Sicher würden Sie sich schämen, besonders wenn Sie dabei Freunde oder Bekannte treffen würden. Genau so ergeht es einem an Inkontinenz leidenden Personen, bei jedem Gang in der Öffentlichkeit. Mir selbst ist es schon passiert, dass mir beim Laufen die Vorlage verrutscht ist, aus dem Hosenbein glitt und mitten auf der Straße landete.
Deswegen hat bei vielen Betroffenen Inkontinenz eine massive Verschlechterung der Lebensqualität zur Folge. Sie empfinden die Auswirkungen der Inkontinenz schlimmer als die einer Krebserkrankung und ziehen sich aus dem öffentlichen Leben zurück, weil sie fürchten, sich zu blamieren.
Gibt es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen?
Frauen gelten noch immer als das schwache Geschlecht. Daher wird bei ihnen eine leichte Blasenschwäche eher akzeptiert als bei Männern. Im TV läuft zum Beispiel regelmäßig Reklame für Damen-Slipeinlagen (Tena, seni und andere).
Allerdings habe ich noch keinen Werbespot für Inkontinenzpants oder Vorlagen für Männer gesehen. Ein Mann, der sich einnässt? So etwas verträgt sich nicht mit dem Image vom harten Kerl und Draufgänger, das bis heute in den Massenmedien gepflegt wird. Deshalb leiden Männer stärker unter den psychischen Folgen von Inkontinenz als Frauen.
Wie sieht es mit öffentlichen Toiletten aus?
Wer an Inkontinenz leidet, freut sich natürlich, wenn es in der Stadt jede Menge öffentlicher Toiletten gibt, die sauber und diskret sind. Leider ist das oft nur ein Wunschtraum. Es gibt viel zu wenig öffentliche Toiletten.
Die paar, die es gibt, sind entweder sehr versteckt und manchmal kaum den Einheimischen bekannt oder sie sind schmutzig und kaum benutzbar oder abgesperrt oder nur gegen eine saftige Gebühr benutzbar. Wer beispielsweise Inkontinenzpants trägt, muss sich zum Wechseln in eine Kabine zurückziehen können.
In vielen öffentlichen Toiletten können die Kabinen nicht abgesperrt werden und Wände und Fußboden sind sehr schmutzig. Unter diesen Umständen ist es verständlich, wenn Inkontinenz-Patienten es vorziehen, daheim zu bleiben.
Wie sieht es mit der Versorgung mit Inkontinenzprodukten aus?
In Deutschland gelten Inkontinenzprodukt seit dem neuen Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung als sehr hochwertig. Sanitätshäuser und Apotheken vertreiben alle Markenprodukte.
Alle Drogerieketten bieten Produkte namhafter Hersteller und Eigenmarken an. Sogar Supermärkte wie Aldi haben Inkontinenzprodukte im Sortiment. Das alles läuft jedoch eher unauffällig ab. Wer Inkontinenzprodukte kaufen will, muss gezielt danach suchen, weil es kaum Werbung dafür gibt.
Gesunde Menschen wissen oft sogar mit dem Begriff Inkontinenz nichts anzufangen und denken höchstens, dass Inkontinenzpants etwas für bettlägerige Patienten oder Rollstuhlfahrer wären.
Was sind die Folgen?
Aufgrund der öffentlichen Tabuisierung entsteht bei vielen Betroffenen ein unnötig hoher Leidensdruck. Sie sind inkontinent, unternehmen aber nichts dagegen, weil sie keine Infos haben. Sie sehen sich selbst als unnormal an, weil sie nicht wissen dass:
- Inkontinenz eine Krankheit ist
- Inkontinenz millionenfach vorkommt
- Inkontinenz heilbar oder zumindest beherrschbar ist
Darum finden viele nicht den Mut, den ersten Schritt zu tun und zum Arzt zu gehen. Dieser Zustand wird sich erst dann ändern, wenn die Öffentlichkeit endlich anfängt, auch über Inkontinenz zu reden.